Soll ich arbeiten trotz Krankschreibung?

Soll ich arbeiten trotz Krankschreibung?

Berufsleben | 20.11.2018

Diese Fragestellung im Titel wirkt zunächst absurd, denn die Problemlage scheint gegenteilig die zu sein, dass sich Kollegen allzu schnell krankschreiben lassen, gerade um nicht arbeiten zu gehen. Das kommt bevorzugt an Brückentagen, nach langen Fußballabenden oder auch an Montagen vor, es erzeugt großen Ärger. Doch es gibt auch das Arbeiten trotz Krankschreibung, das ebenfalls als sehr bedenklich gilt. Erfahren Sie hier, warum MitarbeiterInnen überhaupt auf so eine Idee kommen und weshalb sie damit sich und ihren Kollegen eher schaden als nutzen.

Arbeiten trotz Krankschreibung: Präsentismus ist vom Arbeitsrecht gedeckt

Wenn der Arzt jemanden krankschreibt, hat das seinen Grund. Eine Grippe etwa ist ansteckend, außerdem kann der Organismus unter der beruflichen Belastung nicht schnell genug genesen. Dennoch gibt es immer wieder kranke Mitarbeiter am Arbeitsplatz. Sie versuchen mit vielen Taschentüchern, einem dicken Schal und Gesundheitstee den Arbeitstag zu überstehen, weil sie mitten in einer wichtigen Aufgabe stecken, weil sie sich für unverzichtbar halten, weil sie Krankheiten generell lieber ignorieren als sie auszukurieren oder auch, weil sie den Helden spielen möchten.

Dieser Drang, mit einer ernsthaften Krankheit am Arbeitsplatz zu erscheinen, wurde inzwischen durch die Arbeitsmedizin und -psychologie mit dem Fachbegriff “Präsentismus“ belegt. Es ist ein nicht harmloser Drang, denn er verursacht überwiegend Schaden, der sich in handfesten Kosten für die Arbeitgeber beziffern lässt. Die Ansteckungsgefahr ist so groß, dass binnen einer Woche die halbe Bürobelegschaft ausfallen kann.

Kunden können den schlappen Zustand dieses Mitarbeiters bemerken und sehr negativ interpretieren, in die Arbeit können sich schwerwiegende Fehler einschleichen. Es droht möglicherweise ein Arbeits- oder Wegeunfall, auch verbessert sich der Gesundheitszustand unter der beruflichen Belastung nur äußerst langsam.

Bei so vielen negativen Folgen stellt sich die Frage, wie weit dieses Phänomen überhaupt wider alle Vernunft verbreitet ist. Aus Umfragen geht leider hervor, dass rund 50 % aller Arbeitnehmer mindestens eine Woche pro Jahr trotz Erkrankung arbeiten. Das wird natürlich von ihren Kollegen und dem Chef bemerkt, doch Letzterem sind leider die Hände gebunden.

Reiner Präsentismus ohne unmittelbare schwere Gefahren kann vom Arbeitgeber nicht verboten werden. Wenn er den Mitarbeiter heimschicken möchte, muss dieser mehr als eine laufende Nase und etwas Fieber haben. Der vom Arzt ausgestellte Krankenschein erlaubt vielmehr dem Arbeitnehmer, der Arbeit fernzubleiben - verpflichtet ist er dazu aber nicht.

Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) erfüllt nur die beiden Funktionen, die momentane Arbeitsunfähigkeit festzustellen und ihre vorläufige Dauer zu prognostizieren (“krankgeschrieben bis …”). Eine Prognose kann eintreffen oder nicht. Dieser Binsenweisheit folgen die Präsentler auch mehr oder minder bewusst: Sie bleiben meistens ein bis zwei Tage daheim, danach konstatieren sie hustend: “Geht mir schon wieder besser”, um sich anschließend ins Büro zu begeben.

Muss der Arbeitnehmer nicht auf die Gesundschreibung warten?

Nein, diese ist überflüssig. Der Arbeitnehmer ist nur verpflichtet, nach dem Ende des Prognosezeitraums (“krankgeschrieben bis …”) wieder zu arbeiten, wenn der Arzt den Krankenschein nicht verlängert. Darüber hinaus kann der Arbeitnehmer auch eher schon wieder arbeiten. Wenn er aber vernünftig ist, spricht er kurz vorher wenigstens noch einmal mit seinem Arzt und hört auf dessen Ratschlag. Das Problem ist nur leider: So vernünftig sind die beschriebenen Arbeitnehmer eben gerade nicht.

Wann kann der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nach Hause schicken?

Der Arbeitgeber, der den Krankenschein kennt, kann im Rahmen seiner Fürsorgepflicht den Arbeitnehmer nach Hause schicken, wenn eine ernsthafte Beeinträchtigung oder Gefahr für

  • den betroffenen Arbeitnehmer,
  • für seine Kollegen oder
  • für den Betrieb

drohen. Er kann aber nicht auf Verdacht oder wegen einer laufenden Nase einfach jemand aus dem Büro werfen. Die Grenzen sind von Fall zu Fall fließend, außerdem muss der Arbeitgeber natürlich über die Krankschreibung informiert sein. Das ist nicht zwingend: Der Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, den Krankenschein abzugeben.

Handeln kann und muss der Arbeitgeber bei einer wahrscheinlich schwerwiegenden Gefahr, etwa bei einem unklaren Krankheitsbild und Indizien auf einen sehr gefährlichen Virus (Kollege war ohne ausreichende Schutzimpfung in den Tropen) oder der ernsthaften Gefahr eines Arbeits- oder Wegeunfalls.

Es gibt darüber hinaus weitere Krankheiten, die am Arbeitsplatz sogar tödliche Folgen haben können. Das jüngste prominente Beispiel ist der Absturz einer Germanwings-Maschine im April 2015, die der psychisch kranke Copilot bewusst in ein Bergmassiv der französischen Alpen gesteuert hatte. Gerade dieser Fall hat aufgezeigt, wie wichtig der Gesundheitszustand von MitarbeiterInnen ist.

Muss der Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber über die Krankschreibung informieren?

Es gibt für diese “Informationspflicht” keine explizite gesetzliche Regelung, doch man darf sie zu den Treuepflichten eines Arbeitnehmers zählen. Problematisch wird der Fall, wenn durch das Arbeiten trotz Krankschreibung ein Personen- oder Sachschaden entsteht, für den nun der Arbeitgeber haften soll.Wenn er über die Krankschreibung nicht informiert war, dürfte er versuchen, die Schuld auf den Arbeitnehmer abzuwälzen, was ihm unter Umständen auch gelingen kann. Daher müssen Arbeitnehmer wissen, dass sie sich einem gewissen Risiko aussetzen, wenn sie ihre Krankschreibung dem Arbeitgeber verschweigen und auf der Arbeit erscheinen.

Dr. Hans-Peter Luippold

Autor: Dr. Hans-Peter Luippold

Dr. Hans-Peter Luippold studierte Betriebswirtschaft in Freiburg und Köln und sammelte als Führungskraft bei Daimler, Volkswagen, Lufthansa, Wella und Vorwerk Erfahrungen in allen wesentlichen Unternehmensbereichen. Seit April 2000 ist er als Unternehmens- und Personalberater in Frankfurt am Main tätig. Er hält regelmäßig Vorträge und lehrt zu den Themen Erfolg und Karriere. Vernetzen Sie sich mit ihm über Xing und LinkedIn.